Play it by ear
Play it by ear

Play it by ear

Simultandolmetschen hat etwas von der Improvisationskunst einer Jazzcombo…

Musik, live gespielt, beschert magische Momente. Ob wir allein oder im kleinen Kreis selbst singen, zupfen, in die Tasten greifen oder ob wir vor einer Bühne stehen oder sitzen: Aus vielen einzelnen Tönen entsteht ein Gesamtkunstwerk. Wer es zu analysieren vermag, wird darin mitunter geniale oder genial einfache Strukturen entdecken und sich an einer raffinierten Bauweise oder einer schlichten, aber effektiven Idee erfreuen. In den meisten Fällen entfaltet Musik ihre Wirkung jedoch, ohne dass wir so recht wissen warum (und es auch gar nicht wissen wollen), denn sie ist nicht an unser Bewusstsein gerichtet und bedarf keines bewussten Verstehens.

Mehr als die Summe ihrer Teile

Musik wirkt unmittelbar auf Gefühle und Stimmungen, auf die Atmo­sphäre im Raum. Deshalb läuft in vielen Räumen Hinter­grund­musik, viele Menschen sind mit Kopf­hörern unterwegs, viele (gerade auch bewegte) Bilder sind mit Musik unter­legt: Musik inter­pretiert für das Unbewusste, was wir sehen. Um dies leisten zu können, muss Musik mehr sein als eine Ansamm­lung von Noten. Wer ein Instru­ment zu lernen beginnt, kennt diese mühsame Erfahrung: Bis aus dem Repro­duzieren eines Noten­blatts Musik wird, ist viel Üben erforderlich, das sich nicht allein auf das Trai­nieren der Finger beschränkt.

Um aus Noten Musik zu machen, braucht es mehr als die richtigen Töne. Vor allem muss der Interpret lernen, sich selbst zuzu­hören, sprich er muss eine Vor­stel­lung davon entwickeln, wie seine Töne für ein Publikum klingen. Bleiben sie als hinter­einander aufge­reihte Einzel­elemente unbe­holfen und unver­bunden im Raum stehen? Oder fügen sie sich zu einem stim­migen Ganzen zusam­men, das fließt und bewegt? Die Wirkung könnte unter­schied­licher nicht sein.

Gekonntes Spiel mit Erwartungen

Jede gespielte Note, die an unser Ohr dringt, weckt aufgrund unserer Hörerfahrung bereits Erwartungen an die folgende Note. Wir antizipieren unbewusst, was nun kommen mag und wie es sich an das bisher Gehörte anfügen wird. Aus dieser Bewegung entsteht ein Fluss, der den Zuhörer erfasst und trägt.

Was den lebendigen Fluss von einem Abwasserkanal unterscheidet, sind die gelegentlichen Wirbel und Strudel, die durch Steine, ins Wasser hängende Äste und Treibgut verursacht werden. Durch sie entstehen jene kleine Nebenbewegungen, die beim Lauschen vor Langeweile bewahren. Deshalb ist es so interessant, einem Bach zuzuhören.

Erfüllte (Hör-) Erwartungen bescheren Gefälligkeit: Ich kann mitschwimmen, ich weiß, wohin die Reise geht. Aber wo bleibt das Neue, das Aufregende, die Idee, die zu überraschen vermag? Darin liegt schließlich der Reiz der Live-Performance: Jede ist ein wenig anders. Die Musiker auf der Bühne wollen nicht nur das Publikum mitreißen und überraschen, sie suchen auch selbst nach dem Unbekannten im Bekannten.

Im Jazz ist häufig mit der Abfolge der Akkorde und Harmonien nur ein grober Rahmen vorgegeben, der dem Solisten einen beträchtlichen Spiel-Raum eröffnet. Um ihn mit Musik und Leben zu füllen, gilt es, zuzuhören und zu reagieren. Denn wie man gekonnt über ein Thema improvisiert, ist nirgendwo notiert. Play it by ear.

Im Rede-Fluss mitschwimmen

Wo das Übersetzen einem klassischen Rezital ähnelt, bei dem jedes Detail sorgsam vorab ausgefeilt werden kann, hat das Simultandolmetschen etwas von der Improvisationskunst einer Jazzcombo. Obschon der Dolmetscher sich mit dem Thema des Stücks vertraut gemacht hat, weiß er in den meisten Fällen nicht, was der Redner als Nächstes sagen wird und wie er ein bekanntes Thema variieren könnte. Womit will er sein Publikum überraschen?

In jedem Fall hat der Dolmetscher die Bewegung des Vortrags mitzuvollziehen. Das betrifft nicht nur das Tempo, bei dem aus einem Allegro kein Adagio werden darf. Auch im gesprochenen Wort liegt eine Musikalität, die als atmosphärisches Fließen die Wirkung der Worte auf den Zuhörer entscheidend mitprägt. Die Leistung des Dolmetschers besteht daher im zweifachen empathischen Zuhören: Er muss sich auf den Redefluss des Originals einlassen und sich zugleich darum bemühen, seinen Zuhörern keine bloße Aneinan­der­reihung von Einzel­tönen, sondern eine stimmige Gesamt­heit zu präsentieren, die in ihrem Fluss neben Inhalten auch zahlreiche unbewusste Wirkungen transportiert.

Auch im gesprochenen Wort liegt eine Musikalität, die als atmosphärisches Fließen die Wirkung der Worte auf den Zuhörer entscheidend mitprägt.

Genauso, wie wir in der Musik nicht einzelne Noten hören, hören wir keine einzelnen Wörter, sondern lauschen einem Vortrag, einer Rede, einer Rednerin, die mehr oder minder gekonnt mit den Erwartungen des Publikums spielt.

Im Jazz muss der Solist zugleich auf die übrigen Musiker und sein eigenes Solo hören, das sich einen Weg durch die Klang­land­schaft der Band sucht. Durch den beson­deren Klang seines Instruments inter­pre­tiert er die Harmo­nien und Themen des Stücks in einer wei­teren Sprache. Ebenso lauscht der Dolmet­scher für den Zuhörer dem Vortrag gleich zweimal, nämlich in der Ausgangs- und in der Zielsprache.

Solo statt Einzelnoten

Ein Musiker weiß nach einem Auftritt nur zu genau, welche Läufe und Einzelnoten ihm geglückt sind und welche ein wenig auf Abwegen waren. Ist es eitel, wenn er sie beim nächsten Mal gerne „korrekt” spielen würde? Das Publikum fand hingegen das Konzert mitreißend, was so viel bedeutet wie: Es hat die Bewegung der Musik im Innern miterleben können. Sein unbewusster Wunsch war dabei, einzutauchen, sich von der Musik forttragen zu lassen.

Die Zuhörer einer Verdolmetschung brauchen zwar nicht in diesem metaphorischen Sinne „entrückt” zu werden. Aber auch sie möchten in eine andere Welt eintauchen. Damit ist nicht nur die fremde Welt einer anderen Sprache und Kultur gemeint, sondern ebenso die Ideen- und Gedankenwelt jeder und jedes Vortragenden, die letztlich für sich schon eine eigene Komposition darstellt. Dass der Dolmetscher im Englischen wie auch in vielen romanischen Sprachen dabei als „Interpret” gilt, unterstreicht den aktiven, gestaltenden Aspekt seiner Mittlerrolle.

Wesentlich erscheint mir, dass der Dolmetscher nicht reproduziert, sondern tatsächlich „interpretiert”. Er gibt nicht etwas wieder, was schon vorhanden war, was zuvor abgestimmt und eingeübt wurde, sondern er spielt es neu. Wie ein Bühnen­künstler muss er im Augen­blick seines Auftritts in der Lage sein, sein Können, sein Wissen und seine Erfahrung „abzurufen”. Er hat ad hoc eine Performance darzu­bieten, ein Solo zu improvi­sieren, das in seiner fließenden Bewegung die Zuhörer mitnimmt, sie ihren Erwartungen entsprechend trägt und ihnen zugleich Zugang zu dem verschafft, womit der Redner ihre Neugierde und Emotionen wecken, ihre Gedanken anregen und die Zeit seines Vortrags für sie lohnenswert machen möchte.

Damit endet die Analogie: Simultandolmetschen ist kein Freejazz. Der Dolmetscher ist kein Dirigent, nicht einmal Konzertmeister. Der Applaus gilt dem Redner, seinen Gedanken, seiner Originalität und – ganz nebenbei – seiner Musikalität.